Im Gegensatz zum Gehen, Sprechen oder Fahrradfahren müssen wir das Sehen nach der Geburt nicht erst bewusst erlernen, sondern nutzen diese Fähigkeit ganz selbstverständlich. Doch hinter dem menschlichen Sehvermögen steckt ein hochkompliziertes System, bei dem kleinste Unregelmäßigkeiten schon große Auswirkungen haben können. Viele Unstimmigkeiten lassen sich dank moderner Technik mit Brillen oder Kontaktlinsen problemlos ausgleichen, Augenerkrankungen wie die Makuladegeneration können hingegen nur verzögert und deren Symptome gelindert werden. In beiden Fällen gibt es einen messbaren Wert, der für die Korrektur von Sehfehlern und für die Therapie von Augenleiden von entscheidender Bedeutung ist: die Sehstärke bzw. Sehschärfe, von Augenoptikern und Augenärzten in der lateinischen Fachsprache als Visus bezeichnet.
Was ist der Visus genau?
Der Pschyrembel, das wohl wichtigste medizinische Wörterbuch im deutschsprachigen Raum, bringt die Definition des Visus knapp auf den Punkt und liefert in etwa folgende Erklärung:
Bei der Sehschärfe handelt es sich um das Auflösungsvermögen des Auges bei Tageslicht. Entsprechend beschreibt der Visus den Mindestabstand, den zwei Punkte haben müssen, um sie noch als getrennt wahrzunehmen.
Das klingt ein wenig kryptisch, hat aber eine so einfache wie wichtige Konsequenz, denn übersetzt handelt es sich beim Visus um einen messbaren Wert der Sehstärke, der einen zuverlässigen Sehtest überhaupt erst ermöglicht und einen entscheidenden Faktor für die Diagnose und Korrektur von Sehschwächen darstellt.
Vereinfachte Definition: Der Visus gibt an, wie scharf ein Lebewesen seine Umwelt sehen kann.
Allerdings bedeutet Sehstärke nicht gleich Sehstärke, sondern man unterscheidet den Visus durch verschiedene Schwellenwerte.
Die unterschiedlichen Einteilungen des Sehens
Der Visus wird in verschiedenen Formen betrachtet, begonnen bei der Sichtbarkeitsschwelle (Minimum visibile). Diese auch Punktsehschärfe genannte Grenze markiert den Übergang zwischen Sehen und Nicht-sehen. An der Sichtbarkeitsschwelle kann man also ein Objekt sehen, optisch aber nicht erkennen, um was es sich dabei handelt. Das Erkennen von Objekten ist erst an der Erkennbarkeitsschwelle (Minimum discriminibile) möglich. Diese Lokalisationssehschärfe ermöglicht die optische Wahrnehmung kleinster Veränderungen von Objekten oder ihrer Beziehung zueinander. Das klingt kompliziert, wird anhand eines Beispiels aber leicht verständlich: In einer Reihe, die zehnmal den Buchstaben „A“ enthält, erkennt das Auge sehr früh, wenn eines dieser „As“ auch nur minimal nach rechts oder links gekippt ist. Diese Schwelle befindet sich noch deutlich vor der folgenden, die den Punkt des schärfsten Sehens markiert. Nun sind wir bei der Sehschärfe (Minimum separabile) angelangt, an dem Punkt, der die Unterscheidung zwei nebeneinanderliegender Punkte gerade noch ermöglicht. Wie kann man sich das vorstellen, ohne zu sehr ins fachliche Detail zu gehen? Im Prinzip wirklich als zwei Punkte auf einem Stück Papier. Betrachtet man das Papier aus der Nähe, so sieht man zwei Punkte. Ab einer bestimmten Entfernung sind die zwei getrennten Punkte aber nur noch als ein einzelner Punkt erkennbar. Der Übergang, der uns optisch aus einem Punkt zwei unterschiedliche erkennen lässt, ist der Visus. Für die Messung, Berechnung und Korrektur wird der Visus in ein Verhältnis zum Betrachtungsabstand und zum Sehwinkel gesetzt. Fachsprachlich ist hier häufig auch von angulärer Sehschärfe oder Auflösungssehschärfe die Rede. Eine noch detaillierte Auflösung liefert die Lesesehschärfe (Minimum legibile), was auch erklärt, warum viele Menschen bereits eine Lesebrille benötigen, obwohl sie auf normale Sichtweite noch eine sehr gute Sehstärke aufweisen.
Schon gewusst? Der Bilderdruck macht sich diese Sehschwellen zunutze. Die Farben auf Ihrer Zeitung oder in Ihrer Zeitschrift sind nämlich nicht vollflächig gedruckt, sondern in winzigen Punkten mit weißen Zwischenräumen. Selbst bei nahem Leseabstand entsteht die Illusion einer vollflächigen Farbe und nur eine etwas stärkere Lupe gibt das wahre Druckbild preis. Ein großes Werbeplakat benötigt nur eine sehr geringe Druckauflösung, um aus großer Entfernung scharf wahrgenommen zu werden, während ein Kunstdruck eines sehr hohe Druckauflösung erfordert, weil sich Kunstliebhaber gerne mal Details mit einem Vergrößerungsglas betrachten möchten.
Wodurch wird der Visus beeinflusst?
Als wären die bisherigen Einteilungen bei der Definition des Visus nicht schon komplex genug, gibt es weitere Parameter, die beim Visustest, Sehtest oder der Sehschwächenkorrektur beachtet werden müssen. Die Sehstärke des Menschen ist von folgenden Punkten maßgeblich abhängig:
- Auflösung des Augapfels
Die grundsätzliche Sehkraft des Menschen wird von der Auflösung des Augapfels bestimmt, die sich von Person zu Person wiederum stark unterscheiden kann. Wie bei einem Fernseher oder Projektor, kann auch das Auge kein schärferes Bild liefern, als es die Auflösung erlaubt.
- Abbildungsqualität auf der Netzhaut
Die Qualität, mit der ein Objekt auf der Netzhaut abgebildet wird, hängt ihrerseits von drei weiteren Parametern ab. Zum einen von der Brechung im Auge selbst (Linse, Hornhaut, Glaskörper und Kammerwasser), von der Refraktion des Auges (siehe Artikel: Refraktion) und letztlich vom Brechungsindex der Medien, die an die Hornhaut grenzen, sprich von der Luft oder Wasser.
- Optische Eigenschaften des Objekts und seiner Umgebung
Das Objekt bestimmt ebenfalls darüber, wie es im menschlichen Auge wahrgenommen wird, zum Beispiel durch seine Farbe, den Kontrast zum Hintergrund usw. Genauso wichtig sind die Umstände des Objekts und des Auges, wie die Lichtverhältnisse, denn eins weiß jeder: Nachts sind alle Katzen grau.
- Form des Objekts
Die Form von Objekten wirkt sich direkt auf die Sehschärfe aus, denn beispielsweise ist die Netzhaut in Verbindung mit dem Gehirn in der Lage, bestimmte Formen wie Linien oder rechte Winkel höher aufzulösen, als es die Auflösung der Netzhaut alleine eigentlich zulassen würde.
- Fixierung auf der Netzhaut
Entscheidend für die Sehstärke ist der Ort auf der Netzhaut, auf dem die Projektion der Objekte landet. Nur in der Sehgrube, also an zentraler Stelle des gelben Flecks (siehe auch Artikel: Refraktion), erreicht die Sehkraft ihre größtmögliche Schärfe. Je weiter die Bilder außerhalb dieses Zentrums auftreffen, desto unschärfer sehen wir ohne Korrektur durch eine Brille oder Kontaktlinsen.
Wie der Visus gemessen wird, wie so ein Sehtest aufgebaut ist, und wie man einen Visus-Test selbstständig durchführen kann, finden Sie im Artikel: Visus-Test